Über Thomas Mann, den WDR und die Musik (und ein bisschen über die Linke und ihr Verhältnis zur Kultur)

In der WDR-Radio-Reihe Zeitzeichen war anlässlich des 150. Geburtstags des Schriftstellers Thomas Mann ein sehr schönes Irene Dänzer-Vanotti zu hören. Ich kann das nur empfehlen, weil es insbesondere die politische Seite Manns betonte und vor allem die Hinwendung des ehemaligen Reaktionärs zur Demokratie und zur Sozialdemokratie betonte:

„Er ist ein Meister der Sprache, ein Künstler des Zwischentons – und zugleich ein unbeirrbarer Demokrat. Mit spitzer Feder verteidigt er später Humanität und Demokratie. Früh erkennt er die Gefahr des Nationalsozialismus – und kämpft mit Worten dagegen an“.

(WDR Zeitzeichen)

Im Hintergrund können die Kennerin und der Kenner als illustrative Begleitmusik Beethovens Klaviersonate op. 111 identifizieren. Das ist nicht nur schön, sondern auch passend: Denn zu diesem Stück, der letzten Klaviersonate, die Beethoven überhaupt komponiert hat (und dann, als Rheinländer, auch noch mit der Schnapszahl als Opusnummer versehen hat!), gibt es eine eigene kleine Thomas Mann-Anekdote, nämlich einen regelrechten Beef zwischen dem Schriftsteller und dem Philosophen Theodor W. Adorno. Doch das wird in dem Radiobeitrag leider nicht erzählt.

Beef zwischen Thomas Mann und Adorno

In seinem antifaschistischen Roman „Doktor Faustus“ geht es nämlich um einen Komponisten, der für seine neutönerische Musik seine Seele verkauft. Neben der offensichtlichen Vorlage Arnold Schönberg bezieht Thomas Mann sich insbesondere auf Beethoven und eben auf diese seine letzte Klaviersonate. Hier schöpfte der Schriftsteller nicht aus dem eigenen Vermögen, sondern er schrieb vielmehr ab, nämlich bei Theodor W. Adorno. Dieser war nicht nur Soziologe und Philosoph, sondern insbesondere Pianist und Musiktheoretiker, der einst bei Alban Berg und eben bei Schönberg in Wien studiert hatte. Und Adorno war im kalifornischen Exil Nachbar von Thomas Mann. Thomas Mann hat die Expertise Adornos in musikalischen Dingen vollkommen anerkannt. Adorno wiederum fühlte sich offenbar von der intellektuellen Neugierde Manns geschmeichelt und lies ihn das Kapitel „Schönberg und der Fortschritt“ aus seinem Buch „Philosophie der Neuen Musik“ Jahre vor der Veröffentlichung lesen. Ja, er spielte dem Schriftsteller Opus 111 sogar eigenhändig vor, während jener „mit Notizbuch und Stift“ alle Anmerkungen Adornos begierig mitschrieb. Passagen von Adornos Aufsatz „Beethovens Spätstil“ sind sogar fast wörtlich im Romantext von „Doktor Faustus“ gelandet.

Erwähnt wird Adorno in dem Roman nicht. In einer Nachschrift erläutert Mann am Ende des Romans lediglich, dass er sich musiktheoretisch auf Arnold Schönberg (der ebenfalls in Kalifornien im Exil lebte) beziehe. Es gibt allerdings einen, ironisch gebrochenen, „Wiesengrund-Komplex“. Dazu muss man wissen, das Wiesengrund der zweite Nachname von Adorno ist (der mit dem Nachnamen seiner italienisch-stämmigen Mutter firmierte). Erst in seiner Schrift „Die Entstehung des Doktor Faustus“ (mit dem Untertitel „Roman eines Romans“) gibt Mann dem Musikphilosophen „Credit“ und erwähnt explizit seine Mitwirkung am Roman. In einem Brief, den Manns Tochter Erika posthum veröffentlichte, macht sich Mann dann aber darüber lustig, dass Adorno wegen dieses „Credits“ in der Öffentlichkeit fast so tue, als habe er selbst den Roman „Doktor Faustus“ geschrieben. Adorno war über diese posthume Kränkung so erbost, dass er von dem Schriftsteller nur noch mit seinen Initialen „T.M.“ sprach und ihn öffentlich gar nicht mehr erwähnte.

Die Neue Musik und die Linke

Erwähnenswert ist diese literaturhistorische Anekdote auch deswegen, weil Adorno ein marxistischer Philosoph war, der nicht nur in gesellschaftspolitischen und politökonomischen Fragen, sondern eben auch im kulturellen Kontext „progressiv“ war. Für Adorno gehörten die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Fortschritt und kulturellen und musikalischen Fragen unwiederbringlich zusammen. Stellvertretend stand Adorno damit auch für jene Theorie des italienischen Intellektuellen Antonio Gramsci, der die „kulturelle Hegemonie“ der Linken anmahnte, von der aus erst die gesellschaftlichen Verhältnisse geändert werden könnten.

Die „Neue Linke“, die seit den 1960er-Jahren entstanden ist, konnte freilich mit der Neuen Musik und anderen progressiven künstlerischen Hervorbringungen nicht mehr viel anfangen. Im Gegenteil wurden diese als elitär, bourgeois und „hochkulturell“ (was pejorativ gemeint war) eingestuft und diffamiert. Stattdessen ging diese Neue Linke eine Liaison mit der damals durchaus neuartigen Beat- und Rockmusik ein (schon der Jazz wurde als „anstrengend“ und damit gleichbedeutend fast als „reaktionär“ eingestuft) – jene populärkulturellen Hervorbringungen mithin, die Adorno zusammen mit seinem Kollegen Max Horkheimer als „Kulturindustrie“ gebrandmarkt hatte: Industriell hervorgebrachte Kulturwaren, die für den einfachen und billigen Konsum gedacht waren und entsprechend vermarktet wurden (und werden).

Adornos Äußerungen zur Populärkultur wurden entsprechend nur noch müde belächelt oder als völlig unverständlich gebrandmarkt. Die Anfeindungen reichten bis  bis zu jenem Ausbruch des deutschen Jazz-„Papsts“ Joachim Ernst Berendt, der den Fusion-Jazz der 1970er-Jahre als eine Ausprägung eines „neuen Faschismus in Jazz und Rock“ identifizierte. Umgekehrt war die Bereitschaft und später vielleicht auch die Fähigkeit, einem Musikstück aufmerksam zu folgen, das länger als die von der Unterhaltungsindustrie vorgegebenen 2 1/2 bis 4 Minuten war und ist, extrem gesunken. Das wiederum korrespondiert mit der heute bereits vielfach diagnostizierten gesunkenen (oder: verschwundenen?) Befähigung oder Neigung, noch ein Buch zu lesen, das mehr als 20 Seiten hat oder nicht in unterhaltsamem Ton verfasst ist. Auf Theoriediskussionen kann man sich mit solchen Leuten gar nicht mehr einlassen: Sie kennen schlechterdings die Theorien nicht mehr, über die man streiten könnte.

Heute scheint das Band zwischen einer progressiven Kunst und einer politischen Linken endgültig zerschnitten. Mit wem aus dem politischen Geschäft könnte man sich wohl noch über Beethovens späte Klaviersonaten unterhalten? Mit wem über zeitgenössische E-Musik? Mit wem über aktuelle Kunst? Aus der kulturellen Hegemonie scheint regelrecht eine kulturelle Inferiorität geworden zu sein. Was an den selbsterklärt „progressiven“ Parteien ist dann aber eigentlich noch fortschrittlich? In kultureller Hinsicht nicht viel. Die Kulturstaatsministerin der sogenannten „Fortschrittskoalition“ hatte sich vor allem dadurch ausgezeichnet, einmal Managerin der Anarchorockband „Ton Steine Scherben“ gewesen zu sein: Nicht gerade Avantgarde …

Warum wurde Beethoven im WDR verschwiegen

Fragt sich noch, warum eigentlich im WDR-Zeitzeichen über Thomas Mann die Beethoven-Sonate Opus 111 zwar zu hören ist, aber nicht erwähnt wird. Ich befürchte in intimer wie leidgeprüfter Kenntnis des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dass dies aus der gleichen Ignoranz erfolgt, mit der eine politische Linke nichts mehr mit E-Musik und anderer Hochkultur zu tun haben möchte. Warum die armen Hörerinnen und Hörer mit Beethoven und gar mit Adorno belästigen? Die bunten Familienanekdoten sind doch viel schmeichelhafter und eingängiger zu inszenieren. Der Autorin ist dies übrigens nicht anzulasten. Sie hat ihren eigenen Weg der Subversion gefunden, mit der vielleicht einzig sich echte Kunst heute noch in Massenmedien unterbringen lässt: Als Hintergrund, als Tapete, als Illustration.

Nachschrift:

Ich habe mit der Autorin per E-Mail korrespondiert. Sie schrieb mir, dass es tatsächlich Längengründe gewesen sei, weswegen sie den „Beethoven“ nur als Anspielung untergebracht habe. Bei „nur“ 15 Minuten für das Zeitzeichen-Feature hätte die Darstellung des „Wiesengrund“-Komplexes in einem einzigen Roman einfach zu viel Sendezeit gekostet, erklärt mir die Autorin.

Link:

WDR Zeitzeichen: Thomas Mann


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