Agenda Cutting. Wenn Themen von der Tagesordnung verschwinden.

„Was kann in den Papierkorb?“

Diese Frage findet sich in einem kleinen Nachrichten-Ratgeber, der selbst schon ein medienhistorisches Schatzkästlein ist. Drei Redakteure des öffentlich-rechtlichen Rundfunks haben sich Anfang der 1980er-Jahre im Auftrag der Nachrichtenchefs der ARD Gedanken darüber gemacht, was Neulinge im Hörfunk-Nachrichtengeschäft wissen müssen. Dieser Cicerone durch die Welt der Nachrichten ist feinsäuberlich abgetippt und dann vervielfältigt, die spärlichen Fußnoten mussten in der vordigitalen Zeit der Textverarbeitung noch händisch ausgemessen und dann mit der Schreibmaschine eingesetzt werden. Als „Hinweise von Praktikern für die Praxis“ soll die Broschüre nach Selbstauskunft ihrer Autoren das enthalten, „was Nachrichtenredakteure jungen Kollegen sagen oder sagen würden, wenn Zeit und Gelegenheit reichten“ (Fest, Lumma & Ohler 1983: 7). Und in diesem mit offiziösem Schimmer daherkommenden Handbuch findet sich auf Seite 71 auch ein Abschnitt zu einer intrikaten Frage, die sonst selten in dieser Offenheit in Journalismuslehrbüchern zu finden ist: „Was kann in den Papierkorb?“ Die Frage ist auch ein Geständnis. Ja, zum Geschäft von Journalistinnen und Journalisten gehört – neben der Auswahl jener Ereignisse, die als so relevant angesehen werden, dass sie in die Nachrichtensendung, in die Tageszeitung, auf die aktuelle journalistische Website oder in die journalistisch-redaktionellen Angebote der großen Zahl von Social Media-Kanälen gehören – auch das negative Pendant, gehört es auch, Themen zu kippen, Storys zu killen, Geschichten auszulassen.

Mit der Papierkorb-Metapher haben die Verfasser dieses Nachrichtenleitfadens zu einem sehr drastischen Sprachbild gegriffen. Sie machen damit überdeutlich, was alle Journalistinnen und Journalisten wissen: Redaktionelle Arbeit besteht nicht nur in der Auswahl von Themen und Geschichten, sondern auch in deren Aussortierung. Man kann für diesen Vorgang auch den Begriff Agenda Cutting verwenden.

„Wo Agenda Cutting als dauerhafte Fiktion Wahrnehmung generell und andauernd verzerrt und dem Publikum nicht mit Respekt begegnet, da verliert Agenda Cutting als Methode der Manipulation von Wahrnehmung jegliche Legitimation.“

(Lars Rademacher)

Agenda Cutting ist eine weitflächig geübte Praxis in Medien, Politik und Gesellschaft, bei der Themen bewusst oder unbewusst aus den gesellschaftlichen Diskursen entfernt oder herausgehalten werden. Die Initiative Nachrichtenaufklärung beschäftigt sich schon lange intensiv mit der Frage der Vernachlässigung von Themen und Nachrichten. Mit diesem Sammelband wird erstmals das Thema wissenschaftlich tiefgehend von verschiedenen Seiten aus betrachtet. Das Buch eröffnet die neugegründete Schriftenreihe der Initiative Nachrichtenaufklärung mit dem Motto: „Medien – Aufklärung – Kritik“.

Hektor Haarkötter & Jörg-Uwe Nieland (Hg.):
Agenda Cutting. Wenn Themen von der Tagesordnung verschwinden.
Wiesbaden: Springer VS 2023, ISBN 978-3-658-38802-7 , 63,99 €